Ein Hoch auf die Langeweile!
- Margot Freiler
- 20. Nov.
- 6 Min. Lesezeit

Folgendes ist am Sonntag am frühen Nachmittag passiert: Ich sitze auf dem Sofa und mir fällt auf, es gibt nichts zu tun. Kein, wie ich es nenne, "Hornbach-Moment" (Es gibt immer was zu tun), kein Kochen, Putzen, Bügeln, Sport, keine Arbeit, keine Vortragsvorbereitung, kein Recherchieren, nichts zu tun außer auf dem Sofa zu sitzen. Lange hat es nicht gedauert, bis sich ein Gefühl breit gemacht hat, ein wenig unangenehm hat es sich angefühlt: Langeweile. Und was kam danach: Unruhe, der Drang, zum Smartphone zu greifen. Und was kam, als ich dem Drang nicht nachgab: Ruhe, Entspannung, Leerlauf. Ein angenehmes Gefühl, ich sitze am Sofa, schaue zum Fenster raus, Hochnebel, Gedanken tauchen auf, verschwinden wieder, und je länger ich so dasitze ohne Reiz von außen, desto mehr erholt sich mein überreiztes Gehirn. Wie beschreibe ich es am besten: als dürfe mein Hirn, das ständig am Laufen ist, stehen bleiben und in einem langsamen Tempo weitergehen, wenn es will oder es bleibt im Ruhemodus. Und was kam nach Minuten im Ruhemodus? Von wo auch immer der Wunsch kam, ein Bild zu malen, es tauche eine Idee, eine Vorstellung davon auf. Seit mehr als einer Woche überlege ich, wie ich eine Bildidee umsetzen könnte und da ist sie, die Idee dazu. Ich frage mich, ob die Idee auch aufgetaucht wäre, wenn ich nicht im Ruhemodus gewesen wäre? Ich denke nicht.
Nach dem Malen habe ich mich deshalb ein wenig mit dem Thema Langeweile und einigen Fragen dazu beschäftigt, wie etwa, warum es uns schwer fällt, Langeweile auszuhalten und warum es sich lohnt, ihr mehr Raum zu geben - und habe entdeckt, dass es ein interessantes Thema ist, in das ich Lust habe, sogar tiefer einzutauchen und noch mehr zu recherchieren. Vielleicht. Wenn ich sonst nichts zu tun habe ;-) Womit ich mich sehr wohl auch in diesem Beitrag beschäftigt habe, ist die Verbindung zwischen Langeweile und Achtsamkeit. Auch spannend.
WAS VERSTEHT MAN ÜBERHAUPT UNTER LANGEWEILE?
Langeweile entsteht, wenn wir das Gefühl haben, dass die aktuelle Situation uns wenig Sinn, Reiz oder Abwechslung bietet. Sie ist ein innerer Zustand, in dem unser Geist nach Input sucht – und nichts Passendes findet. Psychologisch betrachtet ist Langeweile ein Signal: Es zeigt uns, dass ein Bedürfnis nicht erfüllt ist – etwa nach geistiger Stimulation, nach Bedeutung, nach Handlung oder nach Kontakt. Hier taucht der Drang auf, für einen Reiz von außen zu sorgen, denn unsere moderne Welt ist darauf ausgelegt, jede Lücke sofort zu füllen. Dafür gibt es drei zentrale Gründe:
1. Dauernde Reizüberflutung
Wir sind ständig online, ständig erreichbar und ständig von kleinen Dopaminschüben umgeben – Likes, Nachrichten, kurze Videos. Unser Gehirn hat sich an diese schnelle Belohnung gewöhnt und empfindet alles, was langsamer ist, zunächst als „zu wenig“.
2. Produktivitätsdruck
Ruhe wird oft mit „Nichtstun“ gleichgesetzt – und das fühlt sich für viele wie Zeitverschwendung an. Wir haben verlernt, Pausen als produktiven Teil des Lebens zu sehen.
3. Vermeidung unangenehmer Gefühle
In der Stille tauchen manchmal Gedanken oder Emotionen auf, die im Alltag untergehen. Ablenkung ist ein schneller Weg, diesen Momenten auszuweichen und sich nicht mit unangenehmen Gefühlen zu konfrontieren. Das Problem daran ist: Die Gefühle gehen deshalb nicht weg, verschwinden nicht, im Gegenteil - sie kommen immer wieder, meist noch verstärkt.
Und wie versuchen wir, der Langeweile zu entkommen?
Beginnen wir mit dem Klassiker - dem Griff nach dem Smartphone: Kurz zwischendurch warten? Handy. Im Bus oder in der U-Bahn sitzen? Handy. An der Supermarktkassa in der Schlange? Handy. In der Küche die Nudeln kochen? Handy. Durch dieses Verhalten füllen wir jede Lücke und geben unserem Gehirn kaum noch echte Ruhezeiten. Doch genau diese Pausen sind essenziell.
Außerdem wird Langeweile mit Faulheit oder Unproduktivität gleichgesetzt - und das darf nicht sein, schließlich sind die Tage doch durchgeplant, wir haben Pflichten, To-Do-Listen, die abgearbeitet werden müssen, da passt kein "5-Minuten-einfach-nur-dasitzen-Moment" hinein, oder? Auch ich hatte und habe so meine Probleme mit dem Nichtstun. Es meldet sich sofort entweder das schlechte Gewissen (irgendetwas gibt es immer zu tun, da sind wir wieder bei meinem "Hornbach-Moment"), oder der Drang mich abzulenken, egal ob mit dem Scrollen am Smartphone oder der Dauerberieselung vor dem Fernseher.
WARUM BRAUCHT UNSER GEHIRN LANGEWEILE UND PAUSE?
Was ich nicht wusste: Neurowissenschaftlich betrachtet passiert in Momenten der Langeweile eine ganze Menge, das Gehirn entfaltet erst sein volles Potenzial - für mich ein guter Grund, immer wieder Pausen einzulegen. Folgendes tut sich im Gehirn:
1. Das „Default Mode Network“ wird aktiv (ich wusste nicht, dass es so etwas gibt)
Wenn wir nichts tun, schaltet das Gehirn auf ein internes Netzwerk um – das Default Mode Network (DMN). Und jetzt wird es interessant, denn in diesem Modus sortieren wir Gedanken, verarbeiten Erlebnisse, verknüpfen Informationen, reflektieren, planen, finden innere Orientierung. Das DMN ist sozusagen wie ein Archivschrank, der sich öffnet, wenn ich an mich selbst, meine Ziele oder meine vergangenen Erlebnisse denke.
Ohne diesen Zustand wäre ich geistig ständig überladen. Will ich das? Nein!
2. Stresshormone sinken
Durch die fehlende Reizüberflutung fährt das Nervensystem herunter. Der Parasympathikus – unser „Ruhemodus“ – kann aktiv werden. Das reduziert Stress und wirkt regenerierend. Hier kommen auch die Wechseljahre ins Spiel. Wenn unser Körper durch Schlafstörungen, Hitzewallungen, Stimmungsschwankungen etc. ständig im Aktiv- und Alarmmodus agiert, tun Pausen und Entspannung sehr gut, bringen unser System wieder zur Ruhe und dadurch kann auch eine Linderung der Symptome erfolgen beziehungsweise kann sich die Schlafqualität wieder verbessern.
3. Kreativität steigt
Viele gute Ideen entstehen unter der Dusche, beim Spazierengehen oder beim Herumträumen – genau dort, wo Langeweile oder Müßiggang Raum haben. Das Gehirn beginnt, neue Verbindungen zu knüpfen. Problemlösungen tauchen plötzlich „wie von selbst“ auf.
4. Aufmerksamkeit erholt sich
Pausen sind wie ein Reset. Sie helfen, Fokus und Konzentration langfristig stabil zu halten.
Beeinflusst Langeweile das Nervensystem positiv?
Ja – aber die richtige Form von Langeweile, denn Langeweile kann sich unangenehm anfühlen und sich bei monotonen Tätigkeiten (wie etwa bei Hausarbeit - Wäsche aufhängen, Geschirrspüler einräumen) zeigen. Äußere Umstände (Hausarbeit) erlauben mir in solchen Situationen keine sinnvollen Aktivitäten. Diese Form kann belastend sein und Stress oder negative Gefühle verstärken.
Und nun zum Positiven der Langeweile, diese Art von Langeweile habe ich - wie schon eingangs beschrieben - vergangenen Sonntag erlebt:
Sie reguliert das Nervensystem herunter, stärkt die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, schafft emotionale Resilienz, fördert mentale Flexibilität. Kurz gesagt: Langeweile ist ein kleiner Wellnessmoment für unser Gehirn, in dem sehr viel Wertvolles entstehen kann: Kreative Ideen, neue Perspektiven, intuitive Problemlösungen, Klarheit über Wünsche und Prioritäten, emotionale Verarbeitung, bessere Entscheidungen. In dieser unscheinbaren Stille, liegen oft die Ideen, Einsichten und intuitiven Antworten, die wir im lauten Alltag suchen.
LANGEWEILE UND ACHTSAMKEIT - WARUM SIE ZUSAMMENGEHÖREN
In der Achtsamkeitspraxis geht es darum, den Moment bewusst wahrzunehmen – ohne etwas verändern zu müssen. Genau das fällt uns schwer, wenn Langeweile auftaucht. Statt im Hier und Jetzt zu bleiben, möchten wir sofort flüchten. Sie konfrontiert uns mit Stille, Leere und Unstrukturiertheit – und lädt uns ein, präsent zu bleiben, auch wenn es sich ungewohnt anfühlt. Langeweile ist also ein wichtiger Hinweis. Ein Zeichen dafür, dass unser Geist gerade im Leerlauf ist und unser Nervensystem eine Pause einlegt. In der Achtsamkeitspraxis üben wir genau das: im Moment bleiben, ohne ihn sofort verändern zu müssen. Langeweile eröffnet uns dafür ein überraschend wirksames Übungsfeld.
Was Achtsamkeit aus Langeweile macht
Achtsamkeit verwandelt das „Da ist nichts los“ in ein „Ich nehme wahr, was ist“. Sie stärkt unsere Fähigkeit, mit innerer Unruhe sanft umzugehen. Sie öffnet einen Kanal zur Intuition und Selbstwahrnehmung. Sie senkt das Stressniveau und stabilisiert das Nervensystem. Sie schafft inneren Raum für Kreativität und Klarheit.
in der Achtsamkeit bekommt Langeweile einen neuen Wert. Achtsamkeit hilft, Langeweile nicht als unangenehmen Mangel zu betrachten, sondern als Erfahrung, die wir beobachten können: Wie fühlt sie sich im Körper an? Welche Gedanken tauchen auf? Welche Impulse zur Ablenkung entstehen? Wenn wir das bewusst wahrnehmen, entsteht eine wunderbare Verschiebung – Langeweile wird nicht mehr zum Feind, sondern zum Tor zu innerer Ruhe. Wenn wir nicht sofort reagieren, sondern einen Atemzug bleiben, entsteht plötzlich ein kleiner Zwischenraum. Ein Raum, in dem das Nervensystem sich entspannt und unser inneres Leben sichtbarer wird.
Je öfter wir diese kleinen Pausen zulassen, desto besser kann unser Körper Stress regulieren und zur Ruhe kommen. Achtsamkeit macht die Langeweile angenehmer. Wir beobachten, statt zu flüchten. Wir spüren, statt zu funktionieren. Und manchmal fällt uns in solchen stillen Zwischenräumen genau das ein, was wir schon lange gesucht haben: ein frischer Gedanke, eine unerwartete Lösung, ein kleines Stück innere Orientierung.
Mini-Übung für dich:
Bevor du das nächste Mal automatisch zum Handy greifst, nimm einen einzigen tiefen Atemzug. Bleib einen Moment. Spüre, was da ist. Das reicht schon.
Vielleicht ist Langeweile nicht das nervige Nichts, das wir immer vermeiden wollen – sondern ein kleiner Kompass zu uns selbst. Ein Moment der Achtsamkeit, der sich von allein ergibt. Wenn wir ihn zulassen, verändert sich etwas: Das Nervensystem entspannt sich, die Gedanken werden klarer, die Kreativität fließt leiser, aber tiefer.
Ich lade dich ein, in den nächsten Tagen eine dieser kleinen Pausen bewusst zu begrüßen. Schau, was passiert, wenn du einen Atemzug länger bleibst – ganz ohne etwas tun zu müssen. Manchmal beginnt genau dort die gute Verbindung zu dir selbst.



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